382Section IV.A. Bluhm.
Dieses Beispiel lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen weiteren Faktor,
der die Gebärfähigkeit der Völker ungünstig beeinflusst, nämlich die
Rassen- bezw. Stammesmischung. Bei Mischlingsgeburten, bei denen der
Vater im Verhältnis zur Mutter sehr gross ist, sind auch bei primitiven
Völkern (z. B. Vater Aleute, Mutter Kamschadalin) Geburtsstörungen keine
Seltenheit. Aber solche Mischlingsgeburten sind eben bei ihnen sehr viel
seltener als bei den starkgemischten und in regem Verkehr miteinander
stehenden Kulturvölkern. Auch in diesen Fällen können wir nicht eigentlich
von Entartung sprechen.
Immerhin bleibt bei Kulturvölkern eine sehr erhebliche Zahl von Fällen
übrig, in denen es sich um einen pathologischen Geburtsverlauf im eigent
lichen Sinne des Wortes handelt. Es fragt sich nun, inwieweit diese ver
minderte Gebär fähigkeit individuell erworben sein kann, und inwieweit sie
auf erblicher Anlage beruht, in wieweit somit die ärzliche Geburtshilfe ihrer
weiteren Vererbung Vorschub leistet? Denn wenn durch die Kunst des
Geburtshelfers eine Mutter mit stark verengtem Becken ein lebendes Kind
zu Welt bringt, während sie ohne diese Kunst von einem toten Kinde
entbunden worden wäre, so trägt unter der Voraussetzung der Erblichkeit
der Beckendifformitäten, der Geburtshelfer zur Verbreitung der engen
Becken bei. Wir können nun auf die obige Frage wie auf alle ähnlichen
heute keine genaue ziffernmässige Antwort geben. Wir glauben aber sagen
.zu dürfen, dass die schlechte Gebär fähigkeit mindestens ebenso oft ererbt
wie erworben wird. Die Gebär fähigkeit ist im wesentlichen von zwei
Momenten abhängig, nämlich von der austreibenden Kraft und dem sich
ihr entgegenstemmenden Widerstande, oder anatomisch ausgedrückt: von
der Beschaffenheit der Gebärmutter- (und Bauch-) Muskulatur einerseits und
derjenigen des knöchernen Beckens und des Beckenbodens (perineum)
andererseits. Beide F aktoren können durch eine unzweckmässige Lebensweise, vor
allem durch mangelnde Bewegung übermässiges Sitzen oder Stehen ungün
stig beeinflusset werden. Der Uterus gehört zwar zu den sog. unwillkür
lichen Muskeln, die nicht bewusst geübt werden können wie die willkürliche
Muskulatur (Arm-, Bein-, Rücken-, etc., Muskulatur); die Uebung der
letzteren bleibt aber nicht ohne Einfluss auf die ersteren. Denn der Zu
stand der willkürlichen Muskeln ist in hohem Grade vom Blutkreislauf
abhängig, der seinerseits wiederum von der Körperbewegung abhängt.
Damit mag es Zusammenhängen, dass die vornehmen Chinesinnen, die
infolge ihrer Fussverkrüppelung zu fast stetem Sitzen verurteilt sind, ebenso
wie die Malayinnen und Javanesinnen, die eine vorzugsweise sitzende Lebens
weise führen, meist schwere Entbindungen haben. Köttnitz, der die
Gesundheitsverhältnisse der sächsischen Industriearbeiterinnen studierte,
sah das sog. “ platte Becken ” häufiger bei Frauen, die als Kind keine
Rachitis gehabt hatten, aber mit 14 Jahren in Webereien eingetreten waren,